Südlink-Magazin

„Weil wir nicht mehr atmen können“

Vor sechzig Jahren starb Frantz Fanon. Sein Werk ist bis heute aktuell, sein Einfluss noch immer beträchtlich.

von Desmond Painter
Veröffentlicht 6. DEZEMBER 2021

Aphoristisch, rhetorisch geschickt und zuweilen zutiefst poetisch – Frantz Fanons Sprache fasziniert bis heute. Doch es sind vor allem seine Ausführungen über Kolonialismus und Rassismus, die dem Werk des großen Denkers aus Martinique bis heute eine enorme Bedeutung und auch Aktualität verleihen. Am 6. Dezember jährt sich sein Todestag zum sechzigsten Mal.

Als der Psychiater, politische Theoretiker und Revolutionär Frantz Fanon vor 60 Jahren verstarb, war er gerade einmal 36 Jahre alt. Doch dies ist nicht die Geschichte eines nur zur Hälfte gelebten Lebens. Bis heute wird dieses erforscht und interpretiert. Und Fanon inspiriert noch immer individuelle und kollektive politische Kämpfe weltweit. Sein schriftliches Werk bewahrt all seinen Schmerz, seine Wut, die scharfe Kritik und radikale, transformative Kraft seines Humanismus. Fanons wichtigste und einflussreichste Bücher „Schwarze Haut, weiße Masken“ (1952) und „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) behandeln kolonialen Rassismus sowie die Dynamik und Widersprüche der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem aber sind es Interventionen, die aus der Perspektive und stets im Dienste eines Kampfes geschrieben wurden – eines Kampfes für Freiheit, Würde, Hoffnung und einen Humanismus, der diesen Namen wirklich verdient.

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Diese Bücher sind viel mehr als bloßer Journalismus und Reportage. Obwohl von Beruf Psychiater, gilt Fanon als einer der großen politischen Denker des 20. Jahrhunderts. Weltweit hat sein Werk an Universitäten Unmengen an Sekundärtexten, Kommentaren, Ausarbeitungen und Interpretationen in vielen Disziplinen hervorgebracht. Seine Schriften sind nach wie vor eine Herausforderung für die gesamte Tradition des westlichen politischen Denkens und Kategorie des „Menschen“, die dessen universalistischen Ambitionen zugrunde liegt. Der Ausschluss und die oft animalische Darstellung des außereuropäischen Anderen im westlichen Denken entmenschlicht nicht nur diejenigen, die als anders gelten, sondern auch die Europäer*innen selbst.

Fanons Einfluss reicht über die akademische Welt hinaus

Philosoph*innen von Hannah Arendt bis Slavoy Žižek bezogen sich auf Fanons Werk. Sein Einfluss aber reicht weit über die akademische Welt der Seminare und Konferenzen hinaus. Black-Lives-Matter-Aktivist*innen in den USA, die den Satz „I can't breathe!“ („Ich kann nicht atmen“) wiederholen, zitieren nicht nur die letzten Worte von Eric Garner, George Floyd und anderen Schwarzen Menschen kurz vor ihrer Tötung durch die Polizei. Sondern auch Frantz Fanon, der in „Schwarze Haut, weiße Masken“ geschrieben hatte: „Wenn wir revoltieren, dann nicht für eine bestimmte Kultur. Wir revoltieren einfach, weil wir aus vielen Gründen nicht mehr atmen können.“

Auch die Bewegung der Hüttenbewohner*innen und die Aktivist*innen für urbane Gerechtigkeit in Südafrika erinnern an Fanon, wenn sie gegen eine räumliche Aufteilung und Ausgrenzung protestieren, die die Kolonial- und Apartheid-Ära reproduziert. Wenn sie gegen die unzureichenden Wohnverhältnisse, die erschütternden öffentlichen Verkehrsmittel und die Zwangsräumungen mobilisieren, die das Leben vor allem im globalen Süden immer noch prägen und die jetzt unter dem Deckmantel liberaler Eigentumsrechte, Privatisierungen und „Entwicklung“ weitergeführt werden. Fanon hat diese Phänomene anhand des Kolonialismus beschrieben.

Seine Texte sind aphoristisch, rhetorisch geschickt und zuweilen zutiefst poetisch. Er lässt sich leicht zitieren und ist wie geschaffen für das Zeitalter von Twitter und seiner rasanten Kommunikation, in der Slogans einer differenzierten Analyse vorgezogen werden. Aber Fanon ist nicht einfach eine weitere kommerzialisierte, im Wesentlichen domestizierte revolutionäre Figur. Er ist kein weiterer Che Guevara, der ein T-Shirt ziert und auf ein Bild der gezähmten Rebellion reduziert, seines Inhalts und seiner politischen Bedeutung beraubt ist. Fanon bleibt ein brillanter und notwendiger Begleiter in der Welt, die wir heute bewohnen und in vielerlei Hinsicht noch mit ihm teilen. Von Lateinamerika bis Afrika, von Asien bis in die USA und zunehmend auch in den Randgebieten der europäischen Gesellschaften bleibt die Welt, in der wir leben, eine Welt der globalisierten Apartheid, des endemischen antischwarzen Rassismus, der strukturellen Ungleichheit und der sich ausbreitenden Gewalt.

Das ist der Grund, warum die Aktualität, ja sogar die Dringlichkeit von Fanons Schriften nicht nachzulassen scheint, auch wenn er in „Schwarze Haut, weiße Masken“ schrieb: „In keiner Weise sollte ich es wagen, die Welt vorzubereiten, die später kommen wird. Ich gehöre unwiderruflich zu meiner Zeit.“

Aber was ist das für eine Zeit, der Fanon so unwiderruflich angehört? Was ist das für eine Welt, aus der und gegen die er schreibt? Fanons Biografie und die Kämpfe, die sein Leben bestimmten, bieten hier mehr als nur Hintergrundinformationen. Auch wenn sein Werk nicht auf seine Biografie reduziert werden sollte, wie es bei Schwarzen Intellektuellen häufig der Fall ist, so hat er doch auch keine Schriften verfasst, die losgelöst von spezifischen existenziellen und politischen Situationen bewertet werden sollten. Frantz Fanon wurde am 20. Juli 1925 in Fort-de-France auf der Insel Martinique geboren, damals eine Kolonie und bis heute Teil des französischen Staatsgebietes. Fanon wuchs als französischer Staatsbürger in einer Mittelklasse-Familie auf und verinnerlichte viele der kulturellen Codes – in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Sprache, Geschmack oder Status – sowie die anzustrebenden Werte der französischen Gesellschaft jener Zeit.

Fanons Erfahrungen mit der französischen Gesellschaft politisierten ihn

Seine Schulzeit schloss er auf Martinique an einem Lycée ab, das damals das renommierteste Gymnasium der Insel war. Als begabter junger Mann, der für den sozialen Aufstieg bestimmt war, verließ er Martinique 1943, um sich den Freien Französischen Streitkräften anzuschließen. Er wurde nach Nordafrika versetzt und kämpfte schließlich in Frankreich, wo er 1944 verwundet wurde und für seinen Militärdienst das Croix de guerre erhielt. Nach dem Krieg kehrte er für kurze Zeit nach Martinique zurück, um einen Bachelor-Abschluss zu machen. Bald darauf ging er jedoch wieder nach Frankreich, studierte Medizin und spezialisierte sich auf Psychiatrie. Nach Beendigung seines Studiums in Lyon wurde er Assistenzarzt in Saint Alban bei dem radikalen Psychiater François Tosquelles, der Fanons Verständnis für die sozialen, kulturellen und schließlich politischen Dimensionen psychischer Leiden nachhaltig prägte.

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Fanons Erfahrungen mit der französischen Gesellschaft während seiner Beteiligung am Krieg, seinen Jahren als Student und als junger Psychiater, politisierten ihn zutiefst. Seine Konfrontation mit offenem und implizitem Rassismus gegen Schwarze sensibilisierte ihn für das Trauma, zwar als französischer Bürger anerkannt, aufgrund seiner Hautfarbe aber nicht voll akzeptiert zu werden. Dieser Widerspruch, der oft heimtückisch in den Details des Alltags verschlüsselt ist, wird als psychischer Bruch verinnerlicht, als eine Form der Selbstentfremdung, die Fanon mit einer innovativen Mischung aus phänomenologischen und psychoanalytischen Perspektiven beschreibt.

Aus dieser Annäherung seiner eigenen Erfahrungen und Beobachtungen und seiner psychiatrischen Überlegungen schuf Fanon eine der prägnantesten psycho-politischen Analysen des kolonialen Rassismus und seiner psychischen Auswirkungen auf Schwarze: „Schwarze Haut, weiße Masken“. Dieses Buch gehört zweifellos untrennbar in eine Zeit, die wir noch mit Fanon teilen, und es spricht auch heute noch zu uns. Es sollte für jeden Linken zur Pflichtlektüre werden, um die Hartnäckigkeit des Rassismus zu verstehen, vor allem wenn er subtil ist und in die Sprache der liberalen Inklusivität und kulturellen Assimilation gekleidet wird. Der Rassismus in weiß dominierten Gesellschaften ist nicht auf rechte Kreise beschränkt. Fanon konfrontiert seine Leser*innen in Europa und anderswo immer noch mit einem Rassismus, den selbst die Progressiven nicht wahrhaben wollen.
1953 verließ Fanon Frankreich und wurde Chefarzt der psychiatrischen Klinik von Blida-Joinville in Algerien. Es war eine Zeit intensiver psychiatrischer Forschung und Praxis, aber auch eines verstärkten politischen Engagements. Im Jahr 1955 schloss er sich der Front de Libération Nationale (FLN) an und trat 1956 aus Protest gegen die repressive Brutalität des französischen Staates als Psychiater in Blida zurück. 1957 wurde Fanon, der inzwischen voll in den Befreiungskampf involviert war, aus Algerien ausgewiesen und siedelte nach Tunesien über, wo er der FLN und der Entkolonialisierung Algeriens in verschiedenen Funktionen diente, darunter als politischer Journalist und Botschafter in Ghana.

Neben psychiatrischen Schriften und gelegentlichen politischen Beiträgen verfasste Fanon in seinen letzten Jahren vor allem sein politisches Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“, das kurz vor seinem Tod 1961 erschien. Es ist ein ebenso politisch aufschlussreiches wie kontroverses Buch, ein echter Klassiker der politischen Analyse und Polemik des 20. Jahrhunderts. Fanons Analyse der Rolle der Gewalt und ihrer Folgen für Täter und Opfer in kolonialen Gesellschaften wird oft mit einer simplifizierenden Befürwortung von Gewalt verwechselt. Fanon hat sich zwar nicht vor dem bewaffneten Kampf gescheut, doch ein Prophet der Gewalt war er nicht. Stattdessen prägte ein radikaler, transformativer Humanismus seine Karriere und sein gesamtes Werk. In seinen eigenen Worten aus „Schwarze Haut, weiße Masken“: „Ich bin nicht nur hier und jetzt, eingeschlossen in das Dingliche. Ich bin für etwas anderes. Ich verlange, dass meine verneinende Aktivität zur Kenntnis genommen wird, insofern ich etwas anderes als das Leben verfolge; insofern ich für die Schaffung einer menschlichen Welt kämpfe.“

Aus dem Englischen von Tobias Lambert.

Siehe auch die Rezension des Buches „Frantz Fanon“ von Frédéric Ciriez und Romain Lamy auf Seite 40.

Desmond Painter lehrt Psychologie an der Universität Stellenbosch in Südafrika.

Desmond Painter lehrt Psychologie an der Universität Stellenbosch in Südafrika.

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