Vor fast drei Jahren wurde die Schwarze, queere Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco in Brasilien ermordet. Noch immer ist unklar, wer dahinter steckt. Leider war es erst ihre Ermordung, die Marielle Franco schließlich relevant genug machte, um im Online-Lexikon Wikipedia aufgenommen zu werden. Anderen (Schwarzen) Frauen aus dem globalen Süden ergeht es ähnlich.

Am 14. März 2018 wachte ich in Kalifornien mit schockierenden Nachrichten auf. Freund*innen, Beiträge in den sozialen Medien und Presseartikel erzählten davon, dass Marielle Franco, eine junge brasilianische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, ermordet worden war. Ich kannte Marielle nicht persönlich, wahrscheinlich weil ich seit acht Jahren im Ausland lebte. Aber das Wenige, das ich über sie wusste, reichte aus, um zu verstehen, dass sie einzigartig und etwas Besonderes war.

Geboren in einer Favela in Rio de Janeiro, stellte Marielle eine statistische Ausnahme dar. Schwarze Frauen sind in Brasilien am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen und beziehen weit niedrigere Löhne als jede andere demografische Gruppe – 2019 knapp 45 Prozent dessen, was weiße Männer verdienen. Marielle erwarb ihren Master-Abschluss in öffentlicher Verwaltung, wurde zu einer scharfen Kritikerin der Polizeibrutalität in den Favelas. Bei den Kommunalwahlen 2016 wurde sie als eine der Politiker*innen mit den meisten Wähler*innenstimmen in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt. Ihre Leistungen sind nicht alltäglich in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung Schwarz oder PoC ist, diese aber nur ein Viertel aller Studierenden stellen.

suedlink194.jpg
Südlink - Digitalisierung: Was passieren muss, damit niemand zurückbleibt
194 – Dezember 2020
Südlink - Digitalisierung: Was passieren muss, damit niemand zurückbleibt
194 – Dezember 2020
Drastisch verändert die Digitalisierung die Lebens- und Arbeitswelt der Menschen in Nord und Süd. Jedoch nicht immer zum Positiven. Vor allem im globalen Süden nicht. Dabei gibt es Mittel für eine positive Veränderung für die Mehrheit der Menschen – in Nord und Süd. „Niemand soll zurückbleiben“, for...

Marielles Tod trug zu einem weiteren beunruhigenden Trend in Brasilien bei. Während die Morde an weißen Frauen seit 2003 deutlich zurückgegangen sind, haben die Morde an Schwarzen Frauen um mehr als 50 Prozent zugenommen. Als Schwarze Brasilianerin weiß ich, dass der tragische Tod einer Schwarzen Frau aus dem globalen Süden nicht jeden Tag zu einer nationalen und sogar globalen Nachricht wird. Ich war schockiert, traurig und sehr daran interessiert, mehr über Marielle und ihr Leben zu erfahren.

Mein natürlicher Ausgangspunkt war das portugiesische Wikipedia. Als ich nach ihrem Namen suchte, tauchte sofort ihr Artikel auf. Ich war ziemlich überrascht, diesen in so guter Qualität zu finden, und erstaunt, dass er ein schönes, frei lizenziertes Bild enthielt. Denn dies ist bei Schwarzen Frauen nicht immer der Fall, insbesondere wenn sie aus dem globalen Süden kommen. Trotz des schrecklichen Grundes, der mich an jenem Morgen zu ihrem Artikel führte, hatte ich das Gefühl, dass sich die Dinge auf Wikipedia und in der Welt zum Besseren änderten. Ich war froh zu sehen, dass das Leben und die bemerkenswerten Taten dieser Schwarzen, queeren Frau, Mutter, jungen Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, die so aussah wie ich, bereits auf Wikipedia sichtbar und anerkannt waren.

Als Lebende nicht relevant genug

Was ich in diesem Moment nicht wusste: Marielles Artikel hatte noch am Tag zuvor auf Wikipedia überhaupt nicht existiert. Nachdem jemand versucht hatte, 2017 einen Eintrag über sie zu anzulegen, wurde dieser von den ehrenamtlichen Redakteuren des portugiesischen Wikipedia gelöscht. In der Diskussion um die Löschung im Juni 2017 sprach sich nur ein Redakteur namens Joalpe dafür aus, Marielles Wikipedia-Artikel auf der Website am Leben zu erhalten. Seine Stimme reichte nicht aus. Eine Gruppe von sechs Redakteuren entschied, dass Marielle Franco keinen Artikel auf der Seite verdiente, weil sie die Wikipedia-Kriterien für „Bekanntheit“ nicht erfüllte.

Dies ist eine der Richtlinien, die Freiwilligen bei der Entscheidung helfen, wer zu Wikipedia gehört und wer nicht. Sie stimmten dafür, den Artikel zu streichen und Marielles Leben und Vermächtnis auf einer der meistbesuchten Webseiten in Brasilien unsichtbar zu machen. Nach Ansicht dieser Gruppe von Redakteuren waren Marielles Leben, ihr Werk und alles, was sie als Lokalpolitikerin, Aktivistin und lebendes Symbol der Hoffnung für Tausende in Rio de Janeiro außergewöhnlich machte, nicht relevant genug. Erst nachdem sie am 14. März getötet wurde, konnte Joalpe erfolgreich für die Wiederaufnahme des Artikels plädieren, und am 15. März konnte ich über das Leben und den Tod dieser bemerkenswerten Frau lesen.

„Bevor sie auf der Straße hingerichtet wurde, wurde Marielle Franco auf der portugiesischen Wikipedia-Seite hingerichtet. Ich glaube fest daran, dass diese Dinge miteinander verflochten sind.“ So beschreibt Joalpe, der Wikipedianer, der dafür kämpfte, Marielles Artikel noch vor ihrer brutalen Ermordung am Leben zu erhalten, den frustrierenden und traurigen Verlauf von Marielles Artikel.

Diese Geschichte ist vielen von uns, die Inhalte über marginalisierte Gemeinschaften in Wikipedia aufnehmen, nur allzu vertraut. Regelmäßig ist es nötig, mit der Bekanntheit bestimmter Frauen zu argumentieren, um die Löschung ihrer Artikel auf Wikipedia zu verhindern.

Die Relevanzkriterien von Wikipedia wurden ursprünglich aufgestellt, um Leute daran zu hindern, Wikipedia zu benutzen, um für Ihre Garagenband oder den kleinen Laden eines Freundes zu werben. Standards dafür zu haben, welche Art von Inhalt in eine Enzyklopädie gehört, ist absolut vernünftig. In der Praxis jedoch verlangen diese Kriterien „bedeutende Berichterstattung“ in „zuverlässigen Quellen“, die von der jeweiligen „Person unabhängig sind“.

Obwohl Wikipedia Neutralität anstrebt, sind die meisten ihrer Freiwilligen immer noch weiße Männer aus dem globalen Norden – nur eine*r von zehn Redakteur*innen ist weiblich –, die ihr Verständnis der Welt mitbringen, wenn sie Wikipedia herausgeben. Und da Frauen aus dem globalen Süden tendenziell zu den Personen gehören, die in unseren Geschichtsbüchern, wissenschaftlichen Zeitschriften und Mainstream-Nachrichtenquellen am häufigsten außen vor bleiben, werden Frauen wie Marielle viel eher als unbedeutend angesehen als zum Beispiel ein weißer männlicher Politiker aus den USA. Bis sie sterben. Danach gibt es manchmal zusätzliche Quellen, die eine Person, so wie Marielle, bekannt genug macht, aber nicht immer.

Als Delta Meghwal, eine Dalit-Frau aus Indien, im Jahr 2016 ermordet wurde, beschlossen die englischen Wikipedianer, sie in Wikipedia zu erwähnen. Aber nicht, indem sie einen Artikel über sie als Person verfassten. Über Delta findet sich nur etwas in dem Artikel mit dem Titel „Vergewaltigungsfall Delta Meghwal“. Mit anderen Worten: Für viele Schwarze und PoC-Frauen aus dem globalen Süden sind Vergewaltigung oder Tod das, was uns bekannt macht, aber nicht unser Leben oder unsere Arbeit.

Einem lokalen Nachrichtensender zufolge hatte der portugiesische Artikel von Marielle am Tag nach ihrer Ermordung etwa 70.000 Seitenaufrufe. Ich war einer der vielen Menschen, die sich Wikipedia anvertraut haben, damit mir die Enzyklopädie mehr über diese unglaubliche Frau erzählt, die allen Widrigkeiten getrotzt hat, die normalerweise das Leben Schwarzer Frauen in Brasilien bestimmen. Doch erst durch die internationale Berichterstattung und den Aufschrei über ihren Tod, wurde ihr Artikel auch in 16 anderen Sprachen auf Wikipedia veröffentlicht.

Geschichten, die erzählt werden müssen

Die Welt ist voll von erstaunlichen Frauen wie Marielle, deren Leben und Beiträge wichtig und bedeutungsvoll sind, und ihre Geschichten verdienen es, erzählt zu werden. Ich brauche und verdiene es, andere Schwarze Frauen wie mich in der Online-Enzyklopädie der Welt zu sehen. Vor allem sollten wir dort auftauchen, solange wir noch leben, und nicht erst, nachdem uns etwas Schreckliches passiert ist.

Abo

Abonnieren Sie den Südlink

Im Südlink können Autor*innen aus dem globalen Süden ihre Perspektiven in aktuelle Debatten einbringen. Stärken Sie ihnen den Rücken mit Ihrem Abo: 4 Ausgaben für nur 16 Euro!

Am 15. November 2020 wachte ich in Kalifornien auf und erfuhr in Windeseile von den Kommunalwahlen in Brasilien und den Morddrohungen gegen Marielles Freundin, die Schwarze feministische Kongressabgeordnete Talíria Petrone. Sie musste aus Rio de Janeiro fliehen. Zweieinhalb Jahre sind seit der brutalen Ermordung Marielles vergangen. Wir wissen immer noch nicht, wer hinter dem Mord an Marielle stand und warum.

Aber wir arbeiten weiter an einer Welt, in der Frauen nicht bedroht oder getötet werden müssen, um in den Nachrichten und auf Wikipedia erwähnt zu werden. Unsere Arbeit ist ein Tribut an Marielle und andere bemerkenswerte Frauen, die es wie sie verdienen, im Leben und nicht nur im Tod gesehen und gefeiert zu werden.

Da wir jedes Jahr im März die #VisibleWikiWomen-Kampagne durchführen, um Bilder von bemerkenswerten Frauen in Wikipedia zu veröffentlichen, bleibt Marielles Geschichte eine schmerzliche Erinnerung daran, wie viel noch zu tun bleibt, um die Sichtbarkeit von Frauen online zu erhöhen. Initiativen wie #VisibleWikiWomen, Whose Knowledge? werden weiterhin dringend benötigt.

Marielles Wikipedia-Artikel hätte eine Hommage an ihr außergewöhnliches Leben zu Lebzeiten sein sollen. Jetzt ist er eine postmortale Hommage an alles, was sie getan hat, und an alles, für das sie stand. Möge ihr Kampf uns weiterhin inspirieren, wenn wir uns dafür einsetzen, die Stimmen, das Wissen und das Leben der Marginalisierten online und überall auf der Welt in den Mittelpunkt zu stellen.

Aus dem Englischen von Tobias Lambert.

Eine frühere Version des Artikels erschien auf dem Portal https://whoseknowledge.org.

Adele Godoy Vrana ist Mitgründerin und Co-Direktorin der Initiative „Whose Knowledge?“, die sich dafür einsetzt, die Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen im Internet zu vergrößern.

Adele Godoy Vrana ist Mitgründerin und Co-Direktorin der Initiative „Whose Knowledge?“, die sich dafür einsetzt, die Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen im Internet zu vergrößern.

Ihre Spende hilft!

INKOTA-Spendenkonto
IBAN DE 06 3506 0190 1555 0000 10
BIC GENODED1DKD

Hier können Sie für ein Projekt Ihrer Wahl oder zweckungebunden spenden: