Südlink-Magazin

Ein Meilenstein für die Arbeitswelt

Vor einem Jahr wurde die ILO-Konvention gegen Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz verabschiedet

von Christina Stockfisch
Veröffentlicht 12. JUNE 2020

Mit der #MeToo-Debatte wurde sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz weltweit zum Dauerthema. Passend dazu beschloss die Internationale Arbeitsorganisation vor einem Jahr ein Übereinkommen gegen Gewalt und sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt samt Empfehlungen zur Umsetzung in den Nationalstaaten. Ein großer Erfolg der Gewerkschaften, die sich auf nationaler und internationaler Ebene jahrelang vehement dafür eingesetzt hatten.

Über 7.600 Teilnehmer*innen aus 178 Mitgliedsstaaten zählte die Jubiläumskonferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Juni 2019 in Genf. Einhundert Jahre ILO waren ein guter Grund zum Feiern. Doch es wurde auch inhaltlich gearbeitet. Im Fokus der Beratungen stand im standardsetzenden ILO-Ausschuss das Thema „Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz“.

Die Arbeitnehmer*innengruppe  wollte ein „Null-Toleranz“-Signal senden und ein inhaltsstarkes, internationales Regelwerk schaffen, das verbindliche Mindeststandards und Definitionen von Gewalt und sexueller Belästigung festlegt.

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Südlink - Gender und Gewalt: Für ein Leben ohne Angst
192 - Juni 2020
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Geschlechtsspezifische Gewalt ist weltweit und an allen Orten anzutreffen: zu Hause und im öffentlichen Raum, in der Arbeit und in der Freizeit. Sie kann körperlich, sexuell, psychisch und ökonomisch sein. Sie ist der schlimmste Ausdruck der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Nicht immer, aber...

Dies ist großteils gelungen. So konnte eine Definition des Arbeitnehmer*innenbegriffs „worker“ mit einem sehr weiten Anwendungsbereich durchgesetzt werden. Auch die Arbeitswelt („world of work“) als Geltungsbereich ist deutlich anspruchsvoller als eine Formulierung, die sich ausschließlich auf den Arbeitsplatz selbst bezieht.

Vor allem aber wurde eine weltweit gültige Definition zu „gender based violence“ festgeschrieben, das heißt mit explizitem Bezug auf die geschlechterspezifische Dimension von Gewalt und Belästigung – ein wichtiges Ziel der Arbeitnehmer*innengruppe. Viele konkrete Anhaltspunkte im Übereinkommen heben geschlechterspezifische Gewalt und/oder Belästigung besonders hervor.

Ebenfalls ist „violence and harrassment“ (Gewalt und Belästigung) als gemeinsame Definition im Text verankert, was das politische Konzept der Arbeitnehmer*innenseite aufgreift. In Bezug auf häusliche Gewalt und deren Auswirkungen gelang es, eine inhaltliche Bezugnahme zur Arbeitswelt herzustellen.

Darüber hinaus werden Mitgliedsstaaten im Konventionstext aufgefordert, sicherzustellen, dass Arbeitnehmer*innen ein verbrieftes Recht bekommen, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, wenn sie einen ernsthaften Grund haben, anzunehmen, dass ihr Arbeitsplatz, die Arbeitssituation oder die Arbeitsbedingungen eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten oder sie Gesundheitsschäden zu befürchten haben.

Für die Arbeitnehmer*innengruppe war es auch wichtig, den Schutzbereich der Konvention auf psychosoziale Erkrankungen auszudehnen und den Begriff als solches zu etablieren. Beispielsweise werden Arbeitgeber nun gemäß Konventionstext dazu verpflichtet, psychosoziale Risiken in die Gefährdungsbeurteilung eines Arbeitsplatzes aufzunehmen und in der Bewertung zu berücksichtigen.

Zehn Tage und Nächte rang der Ausschuss um Formulierungen und Kompromisslösungen. Am Ende einigten sich Regierungen, Gewerkschafts- und Arbeitgeberseite auf einen Übereinkommenstext samt Empfehlungen und legten diesen der Konferenz zur Beschlussfassung vor. Am 21. Juni 2019 wurden dann beide Dokumente von den Delegierten mit überwältigender Mehrheit beschlossen und damit Geschichte geschrieben.

Ein steiniger Weg zu einem historischen Erfolg

Dieser verbindliche internationale Vertrag, der durch eine Empfehlung für die konkrete Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten ergänzt wurde, ist ein historischer Sieg für Arbeitnehmer*innen und ihre Vertretungen. Es war ein langwieriger, mühseliger und schwieriger Weg zehnjähriger gewerkschaftlicher Lobbyarbeit innerhalb der ILO-Gremien. Der steinige Weg begann damit, die Regierungen und die Arbeitgebergruppe in der ILO zu überzeugen, dass ein internationaler Standard gegen geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen überhaupt notwendig ist.

Schon eine Resolution der ILO-Konferenz zur Geschlechtergerechtigkeit im Jahre 2009 forderte ein Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt in der Arbeitswelt sowie entsprechende Gesetze, Schutzmaßnahmen und Präventionsprogramme. Doch der Weg zu einem verbindlichen Abkommen zum weltweiten Schutz von Frauen vor Gewalt war weit. Nur einige Regierungen unterstützten die Idee von Anfang an und die Arbeitgebergruppe lehnte eine Gesetzgebung hierzu vehement ab.

Die Gewerkschaften und verbündete Nichtregierungsorganisationen hingegen starteten eine breite Kampagne, um Unterstützung für eine ILO-Konvention einzufordern. Nach einigen Jahren des zähen Hin und Her begann 2015 in der ILO endlich ein standardsetzender Prozess zu “Gewalt gegen Frauen und Männer in der Arbeitswelt“. Damit wurde anerkannt, dass Frauen zwar wesentlich stärker gefährdet sind, aber letztendlich jede/r Beschäftigte von Gewalt in der Arbeitswelt betroffen sein kann.

Unterdessen wurde im Jahr 2017 mit den Enthüllungen über sexuelle Übergriffe durch Harvey Weinstein ein massiver Missbrauchsskandal in Hollywood bekannt, der die Öffentlichkeit sensibilisierte. Die #MeToo-Debatte machte sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz weltweit zum Dauerthema und verdeutlichte das Ausmaß und die Dringlichkeit des Problems. Außerdem wurde die Frage laut: Wenn Frauen in vergleichbar sicheren beruflichen Positionen so lange stillschweigend sexuelle Belästigungen und Übergriffe erduldeten, wie viel schlimmer würde die Situation dann erst für Textilarbeiter*innen, Hausangestellte, Straßenverkäufer*innen, Transportarbeiter*innen und Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen aussehen?

Die Konvention 190 wurde zum krönenden Höhepunkt der 109. Internationalen Arbeitskonferenz vom 10. bis 21. Juni 2019 in Genf. Dieser Meilenstein in der Geschichte der ILO ist ein wichtiger Schritt, um Belästigung und Gewalt in der Arbeitswelt weltweit zu beseitigen. Das Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung (C190) und die entsprechenden Empfehlungen zur Umsetzung in den Ländern (R 206) sind die vielleicht weitreichendsten Vorschriften zu Arbeitsstandards, die je von der ILO beschlossen wurden, und betonen das Recht jeder und jedes Einzelnen auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung. Die neue Konvention definiert, worin Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt besteht und welches ihre Auswirkungen sind. Sie definiert, wer geschützt wird: Nicht nur fest angestellte, sondern ungeachtet ihres Vertragsstatus‘ alle erwerbstätigen Personen sowie Freiwillige, Arbeitsuchende und andere.

Erfreulich klar wird definiert, was unter „Gewalt und Belästigung“ zu verstehen ist: Dies sind inakzeptable Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, ganz gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben und die auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung umfassen.

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Weltweiter Schutz vor Gewalt und Belästigung

Eine Studie der ILO zeigt, dass es Risikofaktoren gibt, die Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz begünstigen. So sind besonders Arbeitnehmerinnen in Bereichen mit Publikumsverkehr wie Gesundheit, Transport und Bildung gefährdet, ebenso wie solche, die in Privathaushalten, nachts oder in abgelegenen Gebieten ihrer Tätigkeit nachgehen.
Als besondere Errungenschaft sehen es Gewerkschafter*innen daher, dass das Übereinkommen die Betroffenen unabhängig von Vertragsstatus und Arbeitsstätte schützt. Berücksichtigt wird auch Gewalt und Belästigung, die von Dritten ausgeht, etwa durch Patienten im Krankenhaus oder Fahrgäste im Bus.
Und nicht nur Gewalt allein im Job hat nach der Definition Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Die ILO-Norm betont auch die Verantwortung des Arbeitgebers, Arbeitnehmer*innen vor psychischen und physischen Folgen häuslicher Gewalt zu schützen.

Doch wie kommen Betroffene zu ihrem Recht? Das Abkommen sieht Beschwerdemöglichkeiten, medizinische Versorgung, soziale Betreuung bis hin zu rechtlicher Hilfestellung vor. Es geht darum, die der Gewalt zugrundeliegenden Ursachen anzugehen, einschließlich multipler und sich überschneidender Formen von Diskriminierung, Geschlechterstereotypen und ungleichen geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen. Hier setzen das Übereinkommen und seine Umsetzungsempfehlung auf Risikobewertungen am Arbeitsplatz, Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen.

Weltweit können sich nun alle Beschäftigten darauf berufen und gegen Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz wehren, zum Beispiel indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und in betrieblichen Vereinbarungen und Tarifverträgen Regelungen gegen Gewalt am Arbeitsplatz aushandeln.
Bis das ILO-Übereinkommen 190 zu einer weltweiten Verbesserung der Arbeitsbedingungen beiträgt, müssen es die unterzeichnenden Staaten allerdings zuerst in nationales Recht übernehmen. Weltweit tritt die Konvention zwölf Monate nachdem es zwei Mitgliedsstaaten ratifiziert haben, in Kraft. Bis heute haben sich Uruguay, Spanien, Finnland und Argentinien zu einer Ratifizierung bekannt, dies aber noch nicht bei der ILO beurkundet.

Die internationale Gewerkschaftsbewegung hat die Kampagne „#Ratify now!“ gestartet und lobbyiert weltweit für eine zügige Ratifizierung. Unter anderem Island, Namibia, Barbados, Irland, Kroatien, die Dominikanische Republik, Mexiko und die Niederlande haben inzwischen angekündigt, die Konvention 190 zeitnah zu ratifizieren. Obwohl Bundesarbeitsminister Hubertus Heil direkt nach Abschluss des Übereinkommens im Juni 2019 „eine schnelle Ratifizierung“ in Aussicht gestellt hatte, ist seither auf deutscher Seite nichts passiert.

1 Die ILO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie ist „tripartistisch“ organisiert: Vertreter*innen der Regierungen der UN-Mitgliedsländer, der Arbeitnehmer*innen (Gewerkschaften) und der Arbeitgeber sind jeweils gleich stark vertreten und haben gleiches Stimmrecht.

Christina Stockfisch arbeitet in der Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik des DGB-Bundesvorstands.

Christina Stockfisch arbeitet in der Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik des DGB-Bundesvorstands.

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