Ein Land im Ausnahmezustand
Nicaragua vor den Wahlen im kommenden November: Die Opposition ist geschwächt und die Regierung schränkt den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft immer weiter ein.
Während der massiven Proteste gegen die autoritäre Regierung vor drei Jahren schienen die Tage von Nicaraguas Präsident Daniel Ortega gezählt. Doch nun sieht es danach aus, dass er das Land auch nach den Wahlen im November 2021 regieren wird. Schuld daran ist eine beispiellose Welle der Repression, aber auch eine zerstrittene parteipolitische Opposition, die für die Mehrheit der Bevölkerung keine echte Alternative zur regierenden FSLN darstellt.
Seit dem gewaltsamen Ende der Proteste von April bis Juli 2018 gegen das Regime von Daniel Ortega schien die politische, soziale und wirtschaftliche Situation in Nicaragua zu stagnieren. Doch im Wahljahr 2021 drückt die parteipolitische Opposition offenbar auf das Gaspedal. Die Parteien nehmen für sich in Anspruch, den Geist der Proteste von 2018 zu repräsentieren. Mehr als ein halbes Dutzend Präsidentschaftskandidat*innen sind aufgetaucht, darunter der evangelikale Journalist Miguel Mora, der Ende 2018 für sechs Monate in Haft war, weil er mit seinem Fernsehsender die Protestbewegung unterstützte, die Tochter der Ex-Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro, Cristiana Chamorro, ihr Cousin und Wirtschaftswissenschaftler Juan S. Chamorro sowie Félix Maradiaga, Politikwissenschaftler und ehemaliger Funktionär der Regierung von Arnoldo Alemán (1997-2002).
Auf der anderen Seite steht eine autoritäre Regierung, die Polizei und Überwachungsapparat dazu einsetzt, um die bürgerlichen Freiheiten noch weiter einzuschränken und erneute Massenproteste zu verhindern. Die parteipolitische Opposition ist der permanenten Verfolgung durch die Regierung von Daniel Ortega und seiner Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo ausgesetzt. In dieser komplizierten Situation hat sie es nicht geschafft, die Unterstützung jener Menschen zu gewinnen, die vor drei Jahren zu Hunderttausenden auf die Straßen gegangen waren und angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit sowie eine Demokratisierung des Landes gefordert hatten.
In den Oppositionsparteien finden sich vor allem Karrierepolitiker*innen, viele von ihnen aus der traditionellen Rechten, aber auch sandinistische Dissident*innen, Unternehmer*innen sowie ein paar Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der Studierenden- und Bauernbewegung. Ihre Verbindungen zum Großkapital, zu Ortega oder zur alten konservativen Elite, die zwischen 1990 und 2007 neoliberale Regierungen anführte, bieten der ärmeren Bevölkerungsmehrheit jedoch keine glaubhafte Alternative zur Regierung. Über den Ruf nach Demokratie hinaus sind bei den verschiedenen „blau-weißen“ Anti-Ortega-Zusammenschlüssen kaum Forderungen nach einem Wandel der politischen Kultur hin zu einer gerechteren und transparenteren Gesellschaft zu finden.
Dass die Parteien und die Wirtschaftselite den Kampf gegen Ortega vereinnahmt und sich von der Bevölkerungsmehrheit entfernt haben, bleibt nicht ohne Folgen: Nach jüngsten Umfragen sympathisiert ein großer Teil der Bevölkerung – trotz der Ablehnung von Ortegas autoritärem und repressivem Modell – weder mit den 2018 entstandenen oppositionellen Alternativen (Unidad Nacional Azul y Blanco und Alianza Cívica) noch mit den traditionellen Parteien des konservativen Lagers (Partido Liberal Constitucionalista/Ciudadanos por la Libertad). Auch konnten sich die Oppositionsparteien bisher nicht auf ein gemeinsames Alternativprojekt zur Regierung verständigen.
Die Institutionalisierung des Autoritarismus
Trotz dieser Schwäche der Opposition mauert sich der Machtzirkel um Ortega weiter ein. Das von der Sandinistischen Front zur Nationalen Befreiung (FSLN) dominierte Parlament hat im Schnelldurchlauf mehrere umstrittene Gesetze verabschiedet, mit dem Ziel, die willkürliche Verfolgung und Kriminalisierung von Protest zu legitimieren. Die Gesetze beinhalten eine stärkere Kontrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen und deren Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und Finanziers sowie von Einzelpersonen, die sich offen gegen die Regierung stellen.
„Putschisten“, so die offizielle Bezeichnung all jener, die seit 2018 gegen die Regierung auf die Straße gegangen sind, sollen angeklagt und von einem Justizsystem verfolgt werden können, das schon lange vor 2018 von der FSLN unter Kontrolle gebracht worden war. Hinzu kommt das willkürliche Vorgehen gegen Menschenrechtsorganisationen und oppositionelle Medienhäuser.
Die Regierung will so die absolute Kontrolle über die Zivilgesellschaft, Nichtregierungsorganisationen sowie Initiativen der Basis und des Privatsektors sicherstellen.
Das „Gesetz über ausländische Agenten“ zwingt erste Organisationen bereits dazu, die Arbeit einzustellen. So zum Beispiel die Schriftstellervereinigung PEN Nicaragua. Deren Vorsitzende, die bekannte Schriftstellerin und ehemalige Anhängerin der FSLN, Gioconda Belli, erklärte: „Niemand von uns ist ein ausländischer Agent. Wir sind Nicaraguaner*innen und haben uns lediglich für die kulturelle Entwicklung des Landes eingesetzt.“
Aber auch die bis 2018 mit der Regierung verbündeten Finanzeliten sehen sich durch die neuen Gesetze einem bisher unbekannten Zwang ausgesetzt. So sind die Finanzinstitute jetzt dazu verpflichtet, Konten für Regierungsvertreter*innen zu eröffnen, die mit Sanktionen belegt sind. Dies könnte den Banken nach eigener Einschätzung im internationalen Finanzsystem schaden und die wirtschaftliche Krise des Landes verschärfen. Diese ist bereits durch die Auswirkungen der Proteste des Jahres 2018, die Folgen von zwei starken Hurrikanen im November 2020 und die Covid-19-Pandemie erschüttert worden.
Die Auswirkungen der Pandemie
Die Reaktion der Regierung auf die Coronapandemie widersprach von Beginn an dem regionalen Trend. Viel näher an Brasiliens Jair Bolsonaro als an Venezuelas besonnener Reaktion, ergriffen Ortega und Murillo zunächst keine Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die das öffentliche Leben einschränken und der Wirtschaft schaden könnten. Die Bevölkerung sollte sich lediglich regelmäßig die Hände waschen und – als die Pandemie längst in vollem Gange war – Masken tragen. Das Vorgehen der Regierung sahen viele als verantwortungslos an.
Auch wenn die Zahlen des Gesundheitsministeriums aufgrund der direkten politischen Kontrolle durch die Vizepräsidentin Rosario Murillo unzuverlässig sind, sind die Auswirkungen der Pandemie offensichtlich nicht so verheerend wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas. Viele Familien trauern um Angehörige, die – so der Euphemismus der Regierung – durch eine „atypische Lungenentzündung“ gestorben sind. Auch ist eine beachtliche Anzahl historischer FSLN-Kämpfer*innen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und alte Kameraden von Ortega selbst unter unklaren Umständen verstorben, vermutlich in nicht wenigen Fällen an Covid-19.
Allerdings kam es nicht zu der von einigen Regierungskritiker*innen prognostizierten Überlastung der öffentlichen und privaten Krankenhäuser. Dafür gibt es eine Reihe von Erklärungen, wie die geringe Bevölkerungsdichte des Landes, vorsichtiges Verhalten der Bürger*innen, die Tatsache, dass Nicaragua nur einen internationalen Flughafen hat, oder die Schließung der Landesgrenzen durch Honduras und Costa Rica. Auch die umstrittenen Hausbesuche, bei denen Gesundheitspersonal und FSLN-Aktivist*innen landesweit über Präventionsmaßnahmen informierten, dürften eine positive Wirkung entfaltet haben. Diese Kampagne war nur möglich, weil die Regierung in vielen Vierteln und Gemeinden auch weiterhin über funktionierende Netzwerke verfügt.
Auch genießt sie in bestimmten Sektoren trotz Korruption, Autoritarismus und der seit 2018 verschärften Repression noch immer einen beträchtlichen Rückhalt. Laut der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CID Gallup liegt dieser bei etwa 25 Prozent der Bevölkerung. Die oppositionelle Nationale Blau-Weiße Einheit (UNAB) kommt im Gegensatz dazu nur auf vier Prozent Zustimmung, während 62 Prozent für keine politische Gruppierung Sympathie zeigen.
Die FSLN profitiert nicht nur von der Isolierung und Illegalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen, sondern bis heute von den alten sozialen Bindungen aus der Zeit der Revolution (1979-1990). Zugleich punktet die Regierung mit der Verteilung von Lebensmitteln und der Verbesserung der Infrastruktur sowie der Organisierung von sportlichen, kulturellen und ökologischen Aktivitäten. So ist es ihr gelungen, die Idee zu festigen, dass Ortega der einzige sei, der relativen sozialen Wohlstand garantieren kann.
Der lange Weg zu einem demokratischen Nicaragua
Es ist bezeichnend, dass sogar einige der ehemaligen politischen Gefangenen des Regimes, die monatelang unter harten Bedingungen eingesperrt waren und Misshandlungen erlitten haben, sich von der parteipolitischen Opposition distanzieren. Ebenso wie viele junge Menschen, die nach den Protesten das Land verlassen mussten und oft unter schwierigen Bedingungen im Ausland leben.
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Die Wahlen im November dieses Jahres finden nicht nur ohne Mindestgarantien statt, mit einem von Ortega und Murillo kontrollierten Wahlsystem und einer Nationalpolizei, die keine Opposition zum Regime duldet. Sie bieten auch wenig Hoffnung auf eine langfristige soziale Transformation jenseits des hypothetischen Regierungswechsels und des notwendigen Endes der Polizeirepression. So ähnelt die Situation jener vor 2018, mit einer politischen Klasse, die von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen weit entfernt ist. Trotz dieser düsteren Aussichten zeigte der Ausbruch im April 2018 jedoch, dass Massenaktionen dazu geeignet sind, sowohl die politische Macht als auch die traditionellen wirtschaftlichen Eliten in Schach zu halten. Der Kampf für ein Nicaragua, das wirklich allen gehört, wird nicht 2021 enden.
Der seit drei Jahren bestehende Ausnahmezustand ist selbst für die Eliten zu instabil. Sie wissen, dass sie ihn eher früher als später zurückfahren müssen. Unabhängig von den Wahlen muss sich jegliche Opposition gegen das Regime an den Interessen der Mehrheit der Nicaraguaner*innen orientieren. Sie darf nicht einem „Orteguismus ohne Ortega“ des neoliberalen Extraktivismus verfallen, sondern muss damit beginnen, den Weg zu einem gerechteren, demokratischeren und wirklich freieren Nicaragua zu ebnen.
Aus dem Spanischen von Tobias Lambert.
Dieser Artikel erscheint in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung.
Luis Kliche ist Politikwissenschaftler aus Nicaragua und promoviert derzeit an der FU Berlin über die Entwicklung des Staat-Gesellschaft-Verhältnisses in Mittelamerika.
Luis Kliche ist Politikwissenschaftler aus Nicaragua und promoviert derzeit an der FU Berlin über die Entwicklung des Staat-Gesellschaft-Verhältnisses in Mittelamerika.